Redebeitrag zu rechter und sexualisierter Gewalt in Lichtenberg in den letzten 30 Jahren (08.05.2020)

CN: rassistische & sexualisierte Gewalt
 
 
Ich spreche / Wir sprechen für die AVL, die Antifaschistische Vernetzung Lichtenberg. Und ich möchte vorab eine Triggerwarnung aussprechen. Im folgenden Beitrag werden wir rechte und sexualisierte Gewaltakte der letzten 30 Jahre teils sehr genau beschreiben, um die Tragweite rechter Gewalt zu verdeutlichen.
 
In Karlshorst, einem Ortsteil des heutigen Bezirks Lichtenberg wurde am 8.Mai 1945 die Bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands ratifiziert. An diesem 8.Mai wurde das Ende des 2.Weltkrieges, den Deutschland verursacht hatte, endlich besiegelt.
Der 8.Mai 2020 wurde vom Berliner Senat sogar zum einmaligen arbeitsfreien Feiertag erklärt. Unter dem Titel „Tag der Befreiung“ soll sich Deutschland daran erinnern, was bis 1945 von Nazi-Deutschland verbockt wurde.

Für uns riecht das nach Image-Politur. Mit dem Tag der Befreiung soll dieses Land als geläutert erklärt werden. Völkisches, nationalsozialistisches und rassistisches Gedankengut besteht weiter und wurde aus unserer Sicht nie wirklich in Frage gestellt.
Deutschland schiebt ab, Deutschland verschärft Asylgesetze. Deutschland verschließt die Augen vor der Situation tausender Geflüchteter Menschen auf den griechischen und italienischen Inseln und an Europas Grenzen.
Deutsche zünden Unterkünfte für geflüchtete Menschen an, Deutsche erschießen Menschen, die von den Täter:innen als nicht-deutsch gesehen werden, Deutsche verüben Attentate auf jüdische Einrichtungen – wir könnten diese Liste noch weiter führen.
Wir sagen: Als Täter wurde Deutschland besiegt, nicht befreit. Und solange es in Deutschland rechte Täter:innen gibt, bleibt Deutschland Täter.
Wer glaubt, Nazideutschland sei mit dem 8.Mai 1945 Geschichte, irrt. Dafür müssen wir keinen Blick auf gesamt Deutschland wie jüngst Hanau oder Halle werfen oder den NSU bemühen. Schauen wir auf Berlin, genauer auf den Bezirk Lichtenberg und insbesondere auf den Weitlingkiez, dann sehen wir dort ein Viertel, welches seit Mitte der 80er Jahre ein Zentrum der Berliner Neonazi-Aktivitäten darstellt.
 
Nach der Wende nutzten Neonazis der „Nationalen Alternative“ nach der Maueröffnung das machtpolitische Vakuum und besetzten hier mehrere Häuser. 
Wir erinnern an das Neonazi-Haus in der Weitling- Ecke Lückstraße, von dem aus schon 1986 und später ab 1990 bis weit in die 90er ein ganzer Kiez tyrannisiert wurde, insbesondere Menschen, die nicht deutsch aussahen.
In der Folgezeit bis in die 2000er etablierten sich hier Treffpunte und Rückzugsräume für Nazis, darunter die Kameradschaften Tor und Spreewacht, die auch rege Kontakte mit den lokalen Hells Angels pflegten. Die Läden fungierten als Sammelpunkt vor und nach Angriffen auf antifaschistische Veranstaltungen. Von hier aus konnten sie ungehindert den Kiez dominieren. 
 
Damals – wie heute – waren vor allem Linke und Migrant:innen ein beliebtes Angriffsziel der Neonazis im Umfeld des Bahnhofs Lichtenberg. Fast jeden Tag waren sie von Beleidigungen und Gewalt betroffen. Zu den Opfern zählen unter anderem Kurt Schneider und Klaus-Dieter Reichert. Beide wurden in diesen Jahren aus sozialchauvinistischen Motiven ermordet. 
Und wir erinnern an Beate Fischer.
Die 32-Jährige wurde am 23. Juli 1994 von drei Neonazis nach stundenlanger Vergewaltigung und Folter ermordet. Beate Fischer kam aus Weißensee und war Mutter zweier Kinder. Sie war zudem Sexarbeiterin. Die drei Neonazis legten ihren toten Körper bei den Mülltonnen ab. Einer von den Dreien lebte eine Zeit lang im von Neonazis besetzten Haus in der Lichtenberger Weitlingstraße. Zwar wurden die Täter im anschließenden Prozess zu Strafen zwischen 10 und 21 Jahren verurteilt. Trotzdem hat das Gericht die politische Dimension des Falls verkannt.
Erst 2018 wurde der Mord an Beate Fischer als rechte Tat anerkannt. Die Aburteilung Beate Fischers durch die Neonazis als »minderwertig«, die Brutalität des Mordes, der ideologische Hintergrund der Täter und deren unglaubliche Freude an Gewalt waren die Gründe für diese verspätete Anerkennung.
 
Die Verbrechen und Tyranneien der Nazis im Weitlingkiez blieb nicht unbeantwortet. Die linke Szene sorgte mit öffentlichem Druck immer wieder dafür, dass staatliche Stellen die Neonaziobjekte räumen ließen.
Die Neonazis verließen den Weitlingkiez jedoch nicht. 2004 nahmen sie mehrere Kneipen im Kiez in Beschlag, gründeten Nazi-WGs und traten offensiv und gewalttätig auf. Höhepunkt dessen waren mehrere Angriffe auf Linkspartei-Politiker:innen im Jahr 2006.
Die linke Antwort war eine antifaschistische Kampagne unter dem Titel „Hol dir den Kiez zurück“. Gezielt wurden dabei Anwohner:innen und Gewerbetreibende des Kiezes angesprochen und aufgefordert, gegen die lokalen Neonazis aktiv zu werden. Die Kampagne zeigte Erfolge.So wurde die Kneipe „Kiste“ geschlossen. 2008 gingen hunderteMenschen gegen einen Neonaziaufmarsch auf die Straße undblockierten die Demo-Route der Nazis.
 
Nachdem die Kameradschaft Tor 2005 verboten wurde, reorganisierten sich die Lichtenberger Neonazis unter dem Label „Nationaler Widerstand Berlin“ und wurden Berlinweit aktiv. Der so genannte NW Berlin organisierte in den Folgejahren etliche Aufmärsche und verübte Anschläge. Er veröffentlichte auch eine Feindesliste im Internet, auf der dutzende Berliner Politiker:innen, Journalist:innen und Antifaschist:innen aufgeführt wurden.
2011 mietete der „Nationalen Widerstand Berlin“ unter dem Tarnverein „Sozial engagiert in Berlin e.V.“ ein Ladenlokal in der Lückstraße 58 im Weitlingkiez an, das fortan als Treffpunkt für Nazis und Logistikzentrum genutzt wurde. Auch hier konnte eine breite, antifaschistische Kampagne und die solidarische Unterstützung des geprellten Vermieters den Rauswurf des Nazi-Vereins bewirken.
 
Auch wenn dezidierte Nazi-Kameradschaften oder der Nationale Widerstand Berlin den Kiez heute nicht mehr tyrannisieren, sind die rassistischen und sozialchauvinistischen Täter:innen nicht aus dem Kiez verschwunden. Seit 2014 steigen die Zahlen rechter Übergriffe laut Berliner Register an. Von 2014 auf 2015 haben sich die Übergriffe mehr als verdoppelt. Die Täter:innen: der III.Weg, die Identitäre Bewegung, Autonome Nationalisten, die AfD mit ihrer Hetz-Propaganda, aber auch rassistisch und sozialchauvinistisch motivierte Einzeltäter:innen.
 
Am 17. September 2016 wird der 34-jährige Eugeniu Botnari im Hinterzimmer des Edeka am Bahnhof Lichtenberg so stark vom Filialleiter André Siebert verprügelt, dass er wenige Tage später seinen Verletzungen erliegt. In einem verschlossenen Raum des Supermarktes, in den das Opfer gebracht wird, zieht André Siebert zuerst seine Quarzhandschuhe an, dann tritt und schlägt er auf den jungen Moldawier ein und stößt ihn zuletzt durch eine Hintertür auf den Hof. Der Filialleiter, der seine Tat per Video aufzeichnet, schickt die Aufnahme über soziale Medien an die Mitarbeiter:innen und kommentiert seinen brutalen Gewaltexzess mit rassistischen Bemerkungen. Während der Gerichtsverhandlung wird allen Prozessbeobachter:innen klar, dass es in dieser Edeka-Filiale am Bahnhof Lichtenberg ähnliche Taten schon mehrfach gegeben hatte. Zeug:innen sagen aus, dass der Filialleiter seine Quarzhandschuhe regelmäßig gegen jene benutzen würde, die er als vermeintlich „Ausländer“ erkenne. Es sei die Regel, die Opfer in einen Lagerraum zu bringen, dort zu schlagen und dies zu filmen.
Am 20. April 2018 attackieren zwei Nazis eine im Weitlingkiez arbeitende Frau türkischer Herkunft und ihren Lebensgefährten und hetzen ihren Kampfhund auf sie. Die beiden Nazis sind der Betroffenen bereits in der Vergangenheit durch Beleidigungen aufgefallen. Diesmal zischt einer „Ausländerschlampe“. Als sich die Betroffene verbal empört, wird sie attackiert. Einer packt sie am Hals und stößt sie zu Boden. Als ihr Lebensgefährte helfen will, hetzen die Täter den Pittbull auf die beiden Betroffenen. Sie werden in den Oberschenkel und in den Arm gebissen. Obwohl beide Betroffenen die Täter später eindeutig bei der Polizei identifizieren, will die Staatsanwaltschaft kein Verfahren in Gang bringen. Erst durch die nachdrückliche Intervention der Anwältin kommt es überhaupt zu einem Strafprozess.
Dann, am 18.August 2018:
Nazis marschieren, begleitet und geschützt durch die Berliner Polizei, in Gedenken an den Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess bis zum Lichtenberger Bahnhof.
In 2019 verzeichnete das Lichtenberger Register 258 rechte Übergriffe und Aktionen allein in Lichtenberg, ein Fünftel mehr als im Jahr davor. Dabei werden 28mal Menschen körperlich angegriffen, 34mal kommt es zu Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien.
 
Wenn wir über rechte Täter:innen sprechen, dann müssen wir auch dringend über diejenigen reden, welche durch ihre öffentliche rassistische Hetze unter dem Deckmantel demokratischer Legitimation ein rechtes Klima stärken – die „Alternative für Deutschland“.
Bei den Wahlen 2016 erhielt die AfD 19,2% der Lichtenberger Stimmen, fast ein Fünftel der Wähler:innen! – sie erhielt 12 Sitze in der BVV und wurde so drittstärkste Kraft hinter der Linken und der SPD. Hinter Marzahn-Hellersdorf ist das zusammen mit Treptow-Köpenick die 2. größte AfD-Fraktion in einer Berliner BVV.
Wie zu erwarten nutzt die AfD die BVV eher als Bühne für ihre rechte Propaganda. Sie hetzt gegen politische Gegner:innen und zivilgesellschaftliche Arbeit. Zum Beispiel werden die „Amadeu Antonio Stiftung“ oder die Fach- und Netzwerkstelle „Licht-Blicke“ als linksextreme Vorfeldorganisationen bezeichnet. Auch die Flüchtlingshilfe und offene Jugendarbeit ist der AfD ein Dorn im Auge. Mit gezielten Tabubrüchen versucht sie, inhaltliche Diskurse nach rechts zu verschieben mit Hilfe widerlicher rassistischerBilder.
Gleichzeitig beklagt sich die AfD über einen vermeintlichen “Rassismus gegen Deutsche”. Sie verharmlost den Nationalsozialismus, positioniert sich frauen- und queerfeindlich und versucht, Wohnungslose und Migrant:innen gegeneinander auszuspielen.
 
Auch außerhalb des Parlaments ist die Lichtenberger AfD seit ihrer Wahl aktiv. 
2015 fand eine BÄRGIDA-Kundgebung am Bahnhof Lichtenberg statt. Mit dabei: Vertreter der Berliner AfD und NPD.
In 2018 lädt die AfD zu einer Veranstaltung des extrem rechten „Flügels“ der AfD in Wartenberg ein. Unter den etwa 200 AfDlern und AfD-nahen-Gästen: mehrere Lichtenberger AfDler, Björn Höcke, der eine Rede halten wird, Andreas Kalbitz, Jörg Meuthen. David Eckert, ein Lichtenberger und Vorsitzender der Jungen Alternative hält eine extrem rassistische Rede. Das Publikum applaudiert mit „Abschieben! Abschieben!“-Rufen
23.September 2019 – vor nicht mal einem Jahr:
Die Lichtenberger AfD veranstaltet einen öffentlichen „Bürger-Dialog“ im Rathaus Lichtenberg. Dabei filmt sie die Anwesenden gegen deren Willen. Michael Kossler, Mitglied der Lichtenberger AfD, versucht, Nahaufnahmen der Gesichter zu machen. Ein junger Mann will aber nicht gefilmt werden und verdeckt sein Gesicht mit dem Arm. Kossler beginnt daraufhin, heftig mit dem jungen Gast zu diskutieren und hält ihm wieder das Handy vor das Gesicht. Als dieser Kosslers Handy wegdrücken will, schlägt dieser zu, mitten ins Gesicht. Dem Mann bricht dadurch ein Stück Zahn heraus. Anschließende Forderungen, dass Michael Kossler aus der AfD-Fraktion ausgeschlossen werden soll, bleiben bis heute ungehört. Michael Kossler ist immer noch Mitglied der Lichtenberger AfD-Fraktion.
 
Und heute, 2020?
Immer noch gibt es in Lichtenberg regelmäßig Bedrohungen und Angriffe. Immer noch versuchen mehrere Neonazigruppierungen den Mythos Weitlingkiez wiederzubeleben, allen voran die Partei „Der III. Weg“. Immer noch gibt es Nazi-Treffpunkte wie die Nazi-Kneipe „Sturgis“ in der Margaretenstraße. Immer noch kommt es nicht nur zu nazi-verherrlichender, rassistischer, frauenfeindlicher oder sozialchauvinistischer Propaganda, es werden auch immer noch Menschen beleidigt, verbal und körperlich bedroht und angegriffen, weil sie nicht in das Idealbild der Nazis passen. Allein in den ersten vier Monaten diesen Jahres verzeichnet das Lichtenberger Register acht rassistisch motivierte Bedrohungen, Angriffe und Beleidigungen. Hinzu kommt neuerdings die Verbreitung von teils antisemitischen Verschwörungstheorien zu Corona.
 
Bis heute engagieren sich Teile der Bevölkerung und eine wachsende Zivilgesellschaft im Weitlingkiez und drumherum gegen gegen Nazis, Rassist:innen, die AfD usw. Über die Jahre haben sich stabile linke Strukturen heraus gebildet, unter anderem das Lichtenberger Bündnis für Demokratie und Zivilcourage und verschiedene Hausprojekte wie LaVidaVerde oder die Magda, aber auch einzelne Bürger:innen. Wir applaudieren hier den Akteuren und all den Bürger:innen, die Rassismus, faschistischen Ideologien, Frauen- und Queerfeindlichkeit, Sozialchauvinismus usw. den Kampf angesagt haben.
 
Die Schilderungen der aktuellen Situation zeigen aber auch: es braucht weiterhin eine wachsame Zivilbevölkerung und eine starke antifaschistische Gegenbewegung.
Und wir fordern nochmal alle politischen Akteure auf, einer Normalisierung im Umgang mit der AfD vehement, klar und entschieden entgegen zu treten. 
Auch deshalb können wir nicht von einem Tag der Befreiung sprechen.
Aber wir werden uns erinnern, an Kurt Schneider, an Klaus-Dieter Reichert, an Beate Fischer, an Eugeniu Botnari, an alle Opfer und Betroffenen nazistischer, rassistischer, antisemitischer, sozialchauvinistischer, queer- und frauenfeindlicher Gewalt.
 
Erinnern heißt kämpfen!
Niemand ist vergessen!
Weg mit der ganzen rechten Scheisse – in Lichtenberg, in Deutschland – überall!!!