Antifaschistisches Gedenken an Klaus-Dieter Reichert

In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1990 starb Klaus-Dieter Reichert im Alter von 24 Jahren in Berlin-Lichtenberg. In der Wohnung von Bekannten wird er von mehreren rechten Skinheads bedroht und brutal zusammengeschlagen. In Panik lässt er sich aus einem Fenster im zehnten Stock eines Hochhauses fallen. Nach dem Sturz ließen die Täter den schwerverletzten Reichert vor dem Haus liegen. Dort verstirbt er kurz darauf. Der Tod von Klaus-Dieter Reichert gibt sehr viele Rätsel auf. Trotz allem ist für uns klar, dass er ein Opfer extrem rechter Gewalt ist. Wir wollen an sein Schicksal erinnern, auch wenn er bisher in keiner offiziellen Opferstatistik auftaucht. Neonazistische Gewalt hat viele Gesichter. Ihre Opfer dürfen wir nicht vergessen!

Das Schicksal von Klaus-Dieter Reichert
Über Klaus-Dieter Reichert ist wenig bekannt. Er wurde 1966 in einer Kleinstadt in Mecklenburg geboren. Zum Zeitpunkt seines Todes wohnte er bei wechselnden Bekannten in Berlin-Lichtenberg. Laut Gerichtsakten und Zeug:innen-Aussagen soll er regelmäßig in der Bahnhofsszene am S Lichtenberg verkehrt haben. Dort hatte er auch Kontakt zu Neonazis. Reichert hatte sich früher selbst als Skinhead gesehen und entsprechende Tätowierungen am Körper. Zu seiner politischen Orientierung am Tatzeitpunkt ist nichts bekannt.
Allerdings war Klaus-Dieter Reichert wohl am Rande an einem bandenmäßigen Scheckkartenbetrug beteiligt. Dies war unter Umständen eine Folge seiner prekären Lebenssituation und der schwierigen finanziellen Verhältnisse. Dabei soll er gegenüber anderen Beteiligten 8.000 DM Schulden gehabt haben. Um das Geld einzutreiben, wurden weitere Banden-Mitgliedern auf ihn angesetzt. Am 9. Dezember unternahmen sie einen ersten Versuch, um an das Geld zu gelangen. Doch Reichert konnte die Geldeintreiber abschütteln. Allerdings begegneten sie sich am Abend des gleichen Tages in einer Wohnung, die als Treffpunkt rechter Skinheads bekannt war. Im Beisein von Reichert versprachen Geldeintreiber denjenigen 1.000 DM, die ihnen die 8.000 DM bringen würden. Einen Tag später, am 10. Dezember, traf Reichert zufällig drei rechte Skinheads auf dem Bahnhof Lichtenberg. Sie hatten von dem Kopfgeld gehört, bedrängten und schlugen ihn. Daraufhin willigte Reichert ein, ihnen das Geld in der Wohnung eines Bekannten in Lichtenberg zu übergeben. Zusammen mit einem weiteren Täter fuhren sie zu fünft in die Wohnung. Dort angekommen gab Reichert jedoch an, das Geld an einer anderen Stelle gelagert zu haben. Daraufhin schlugen ihn die drei rechten Skinheads mit Holzlatten und Baseballschlägern brutal zusammen. Kurz nach Mitternacht fühlte sich Klaus-Dieter Reichert in dieser Situation wohl so in die Enge getrieben, dass er sich aus einem geöffneten Fenster stürzte. Als die Täter danach hastig das Haus verließen, fanden sie ihn noch schwerverletzt auf dem Gehweg liegen. Doch sie holten keine Hilfe. Die vom Wohnungsinhaber benachrichtigte Polizei konnte Klaus-Dieter Reichert nicht mehr helfen. Er verstarb in der Nacht des 11. Dezember 1990.

Unklare Bewertungen des Falls
Drei der vier Täter (im Alter von 19, 22 und 27 Jahren) wurden im folgenden halben Jahr von der Polizei gefasst. Einer ist bis heute unbekannt. Das Landgericht Berlin verurteilt später zwei von ihnen zu je vier Jahren, den dritten zu drei Jahren Haft. Alle drei bekannten Täter verkehrten laut Anklageschrift in Kreisen rechter Skinheads. Einer von ihnen war zudem bereits wegen neonazistischer Propagandadelikte verurteilt. Obwohl die politischen Hintergründe bekannt waren, spielten sie bei der Verurteilung und der offiziellen Bewertung der Tat keine Rolle. Staatsanwaltschaft und Gericht gingen allein von materiellen Motiven der Täter aus, die das Kopfgeld erhalten wollten.
Dennoch wurde Klaus-Dieter Reichert in den folgenden Jahren in viele inoffizielle Statistiken zu Opfern rechter Gewalt in der Bundesrepublik aufgenommen. Im Jahr 2014 war sein Fall einer von zwölf Tötungsdelikten, zu denen das Landeskriminalamt Berlin eine Neubewertung der politischen Hintergründe in Auftrag gab. In seiner 2017 veröffentlichten Studie kommt das beauftragte „Zentrum für Antisemtismusforschung“ an der Technischen Untiversität Berlin zu dem Ergebnis, dass der Tod von Klaus-Dieter Reichert nicht als politisches Tötungsdelikt einzustufen wäre. Allerdings erfolgt diese Einschätzung aufgrund der schlechten Quellenlage nur unter Vorbehalt. Für eine umfassende wissenschaftliche Bewertung fehlen beispielsweise wichtige Dokumente aus dem Gerichtsprozess. Somit ist die Bewertung der Forschenden kein objektives wissenschaftliches Urteil, sondern eine letztendlich subjektive Deutung der vorhandenen Quellen. Diese deuten in Ansätzen darauf hin, dass die Täter vorwiegend aus materiellen Motiven gehandelt hätten. Politische Deutungsmöglichkeiten seien aus ihnen nicht sicher abzuleiten, aber auch nicht abschließend auszuschließen.

Viele offene Fragen
Allerdings verweist ein Zeitungsartikel auf die Urteilsbegründung. Dort es heißt, dass die Tat durch die „Verrohung der Angeklagten“ in einem „von Alkoholmissbrauch und zielloser Gammelei geprägten Milieu“ begünstigt wurde. Unklar bleibt hingegen, inwieweit auch extrem rechtes Denken als Aspekt dieser Verrohung zu verstehen ist. Nach bisherigen Erkenntnissen hielten sich alle Täter in extrem rechten Kreisen in Lichtenberg auf. Menschenverachtende Abwertung sowie Gewalt gegen Einzelpersonen und Gruppen gehörte dort zum Alltag. Ein beständiger Aufenthalt in so einem Umfeld führt unweigerlich zu einer Gewöhnung an die Vorstellung von Gewalttaten und Gewalthandlungen. Es ist zu vermuten, dass ohne eine so gesenkte Hemmschwelle die Tat nicht möglich gewesen wäre. Weil die bekannten Täter aufgrund ihrer politischen Einstellung Gewalt als legitimes Mittel der Konfliktlösung akzeptierten, waren sie auch bereit, diese gegen Klaus-Dieter Reichert einzusetzen. Die Studie der TU Berlin geht auch auf diese Einschätzung ein. Dort heißt es:

„Eine Verrohung der Täter durch die Zugehörigkeit zur rechtsextremen Gewaltszene erscheint plausibel, ist aber aufgrund der unzureichenden Quellenlage nur ansatzweise zu belegen. Die Tä-
ter kennen sich untereinander nur oberflächlich und stellen keine feste Gruppe dar. Die erweiterten Kriterien für ein politisch rechtes Tötungsdelikt scheinen deshalb nicht erfüllt zu sein.“
(Seite 54)

Dennoch bleiben bei dieser Bewertung Fragen offen. Warum haben die Geldeintreiber der Scheckkartenbande, über deren politische Hintergründe nichts bekannt ist, explizit in einer Wohnung, die als Treffpunkt rechter Skinheads galt, das Kopfgeld ausgesetzt? Die Gewaltneigung der Neonazis kann hier eine entscheidende Rolle gespielt haben. Außerdem kann die vermeintliche rein materielle Motivation der Täter nicht erklären, warum diese so exzessiv Gewalt gegen Reichert anwendeten, nachdem dieser nicht zahlen konnte. Die gewalttätige Herabwürdigung des Gegenüber scheint fü sie wichtiger zu sein als das Kopfgeld bzw. der Frust über dessen Verlust. Dabei spielt wahrscheinlich auch die Wahrnehmung der Täter von Reichert eine Rolle. So sagten Zeugen im Gerichtsverfahren aus, dass er regelmäßig in der Obdachlosenszene am Bahnhof verkehrte und dort Alkohol konsumierte. Die Gewalteskalation kann somit auch eine Folge der sozialchauvinistischen Abwertung des Opfers sein. Eine solche Deutung des Schicksals von Klaus-Dieter Reichert ist bisher an keiner Stelle verfolgt worden.

Es braucht ein Gedenken! – Unsere Forderungen
Letztendlich werden diese Fragen nicht geklärt werden können. Auch das wissenschaftliche Gutachten brachte nicht die erhoffte Gewissheit über mögliche politische Hintergründe. Die Behörden Berlins und der Bundesrepublik nutzen diese Restungewissheit, um Klaus-Dieter Reichert einen offiziellen Status als Opfer rechter Gewalt vorzuenthalten. Sein Schicksal ist ein Beispiel für die unwürdigen Versuche des Staates, die offiziellen Statistiken von Opfern rechter Tötungsdelikte so gering wie möglich zu halten. Stattdessen wird die Beweislast umgekehrt. Menschen, die sich für die Opfer einsetzen wollen, müssen den letzten Beweis für die politischen Hintergründe der Tat liefern. Dem Staat reichen Vermutungen, um tatenlos zu bleiben und einen rechten Mord zu übersehen. Doch ebenso gute Vermutungen über einen politischen Hintergrund der Tat reichen eben nicht aus, um eine offizielle Anerkennung zu erhalten. Doch für uns ist das kein Grund, den Fall von Klaus-Dieter Reichert zu ignorieren oder zu vergessen. Wir werden uns stattdessen umso stärker für eine Erinnerung einsetzen.

Deshalb fordern wir:

1) Das Zentrum für Antisemitismusforschung oder die Berliner Sicherheitsbehörden müssen den genauen Todesort von Klaus-Dieter Reichert bekannt geben. Nur so kann ein würdiges Gedenken abgehalten werden und eine Diskussion über dauerhafte Gedenkmöglichkeiten angestoßen werden.

2) Um in Zukunft einen würdigen politischen Umgang mit unklaren Fällen zu finden, muss die Klassifikation von Opfern rechter Gewalt in Berlin und bundesweit geändert werden. Hier braucht es eine Verschiebung der Beweispflicht. So muss bei Täter:innen, deren extrem rechter Hintergrund bekannt ist, aufgrund ihrer Gewaltgewöhnung und ihrer generell menschenfeindlichen Denkweisen stets von einem politischen Motiv ausgegangen werden solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Anstatt nachzuweisen, dass extreme Rechte ideologisch motiviert handelten, muss gezeigt werden, dass sie es nicht taten. Nur so kann ihren Opfern noch ein Rest Gerechtigkeit widerfahren.

Kein Vergeben, kein Vergessen – Erinnern heißt kämpfen!